Joggen trotz Coronavirus

Plädoyer für eine Beibehaltung guter wissenschaftlicher Praxis auch in Coronazeiten

Huch – besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit sich beim Laufen und Joggen mit dem Coronavirus zu infizieren? Wenn es doch die Süddeutsche Zeitung schreibt: Forscher empfehlen Joggern zehn Meter Abstand?

Schauen wir mal genauer hin: Die Süddeutsche verweist in ihrem Beitrag auf einen Beitrag in Runner’s World, der wiederum verweist auf einen ungeprüften Blogeintrag eines Nutzers bei medium.com, der wiederum (auf Nachfrage in den Kommentaren) auf ein Preprint-Papier von Blocken & Malizia et al. verweist, das sich mit etwas Glück gerade im wissenschaftlichen Prozeß der Begutachtung befindet. In diesem Zustand kann man als Laie in Bezug auf dieses Fachgebiet nicht bewerten, ob das Papier wissenschaftlich korrekt ist, oder ob hier der Coronahype mitgenommen wird.

Da ich keinen anderen Anlaß habe, nehme ich jetzt mal positiv denkend an, daß die Experimente und Auswertungen des Papiers wissenschaftlich korrekt durchgeführt wurden. Es wurden Messungen im Windkanal um Computersimulationen ergänzt, die die Ausbreitungen von Tröpfchen im Umfeld von zwei hintereinander laufenden Sportlern untersuchen. Die Sportler werden dabei als „starre“ Körper simuliert, d.h. die beiden Menschen bewegen sich in Laufrichtung, bewegen dabei jedoch weder Arme noch Beine. Das Ergebnis des Papiers: Bei typischen Laufgeschwindigkeiten, in einer windstillen Umgebung, bei zwei gleich großen starren Läufern, erreichen auch in größerer Entfernung als 1,5m den hinteren Läufer Tröpfchen aus der Atemluft des ersten Läufers.
Die Limitierungen des Experiments werden von den Autoren auch so geschildert – die wissenschaftliche Herangehensweise ist hier also in Ordnung. Die Autoren selbst schlagen auch weitere Untersuchungen vor, wie dynamische Betrachtung, versetztes Laufen oder Berücksichtigung von Wind. Die Forscher stellen fest, daß, in ihrem Experimentaufbau, versetztes Laufen oder ein größerer Abstand zu einer geringeren Kontamination mit Tröpfchen führen würde.

Das ist wissenschaftlich soweit in Ordnung – nicht ok ist es allerdings, aus dieser noch unveröffentlichten Studie einfach mal so weitere Schlüsse zu ziehen und Verhaltensempfehlungen zu geben. Man kann aktuell nur sagen: vielleicht sind 10m Abstand besser – vielleicht aber auch nicht.

  • Die Forscher sprechen von „substantial droplet exposure“,
    quantifizieren diese jedoch nicht. Sie spezifizieren auch nicht, wo auf
    dem Körper des zweiten Läufers die Tropfen auftreffen. Im Papier werden
    nur Bilder der Simulation mit einer Größenverteilung der Tröpfchen, jedoch keine Dichteverteilung gezeigt. Hier sollte nachgebessert werden.
  • Ich vermute, daß ein Mensch, der gerade Sport treibt, zu dieser Zeit mit einer niedrigeren Wahrscheinlichkeit an Covid-19 erkrankt ist als die Menschen der Umgebung im Durchschnitt: niemand geht mit Fieber oder Husten zum Laufen. Schlimmstenfalls befindet sich der Läufer in den ersten Tagen der Erkrankungen oder ist generell symptomlos. Generell würde ich also vermuten, daß die Ansteckungsgefahr bei Sporttreibenden niedriger ist als bei anderen. Es könnte also sein, daß Joggen, auch wenn der Tröpfchenaustausch höher sein sollte, statistisch ein geringeres Infektionsrisiko hat als das Ratschen mit dem Nachbarn in 1,5m Abstand.
  • Sporttreibende tendieren dazu, schneller zu atmen und damit auch mehr Volumen auszutauschen. Es wäre interessant zu wissen, ob sich dies auf den Prozess einer möglichen Infizierung durch Einatmung von Tröpfchen oder auf die Konzentration der Viren in der Atemluft auswirkt. Dieser Effekt könnte natürlich positiv oder negativ sein.
  • Bei Windeinfluß könnte versetztes Laufen kontraproduktiv sein. 

Gerade jetzt, wo noch vieles bezüglich des Coronavirus und der Erkrankung unklar ist – schlichtweg, weil die notwendigen Meßdaten fehlen oder zu ungenau sind – Letalität, Immunität, Ansteckungswege, Medikamente, Impfstoffe – sollte auf eine gute wissenschaftliche Praxis nicht verzichtet werden.

Angemessene Regeln zum gesundheitlichen Schutz unserer Gesellschaft sind offensichtlich notwendig. Die Ereignisse auf unserem Globus führen uns die Gefahren der Epidemie klar vor Augen. Nur: Genau wie Bullshitparolen von Verschwörungstheoretiker („ist ja nur ein Grippevirus“) immens gefährlich sind, weil sie geeignet sind, das Vertrauen der Menschen in die Wichtigkeit der Gegenmaßnahmen zu zerstören, sind auch überzogene und falsch verstandene Maßnahmen ungeeignet uns zu schützen und erzeugen schlimmstenfalls humoriges Unverständnis (Sitzen auf Parkbänken und Sonnenbaden doch erlaubt), unnötige Ausübung von Polizeigewalt (dju in ver.di kritisiert Polizeigewalt gegen Journalistinnen und Journalisten) oder es drohen echte gesundheitliche Gefahren (Is France’s president fueling the hype over an unproven coronavirus treatment / Science).

Zum Schluß der Verweis auf eine weitere kritische Betrachtung dieser wissenschaftlichen Arbeit: Vice / The Viral ‘Study’ About Runners Spreading Coronavirus Is Not Actually a Study.

Ergänzung 17.04.2020: In der Druckausgabe vom 16.04.2020 hat auch die SZ die Relevanz der zitierten Forschungsergebnisse relativiert und die oben genannten Argumente weitestgehend auch selbst genannt. Es wird sogar bekräftigt: „Ob sich jemand anstecken kann,wenn er mit drei Meter Abstand hinter einem Infizierten läuft, wird nicht beantwortet,weshalb manche Epidemiologen über die Studie entsetzt waren.“

Ergänzung 4.5.2020: Die Zeitschrift Science plädiert nun auch: Against pandemic research exceptionalism

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert